Nha Trang, Bahnhof. Wir stehen erschöpft von der langen Fahrt auf anderthalb Sitzen und einem Berg Rucksäcken im Minivan in einer überfüllten Wartehalle und fragen uns, ob wir überhaupt am richtigen Ort sind und wo um Himmels Willen es hier zu den Gleisen gehen soll.
Jeder verfügbare Platz wird von kinderreichen Familien und fröhlichen Omis auf gigantischen Koffern ausgenutzt. In der Wartehalle herrscht angespanntes Chaos, es ist stickig und heiß.
Im Bahnhof selbst gibt es keinerlei nennenswerte Beschilderung. Wann und wo unser Zug genau einfährt, ist unklar. Wo die Gleise sind, lässt sich nur mit Mühe herausfinden. Alle Türen, die zu den Schienen führen, sind geschlossen. Durch das Milchglas sieht man nur Güterwagons. Ein bisschen ist es so, als wollten wir den Hogwarts-Express nehmen, aber wir kommen nicht auf Gleis 9¾. Also stellen wir uns am Infoschalter an, wo uns eine desinteressierte Frau nach zehnminütigem Warten anweist, zum Tor zwei zu gehen. Es gibt aber kein Tor zwei. Es gibt auch keinen Infoschalter zwei. Wir beschließen zu warten – aus Mangel an Alternativen.
Auf ein nicht näher identifizierbares Zeichen hin setzen sich alle Wartenden in Bewegung und stellen sich brav an den Türen nach draußen an, bis der Rückstoß der Masse die Leute wieder zu ihren Sitzen treibt. Babys weinen, alte Leute stehen kurz vor dem Kollaps. Kurz bevor die erste Reisegruppe aus Kalifornien ohnmächtig wird, öffnen Bahnmitarbeiter magische Tore und die riesige Menge an Leuten trampelt wie Vieh auf die Schienen.
Auf den Gleisen selbst ist es immer noch unklar, wo der Zug abfährt. Dafür entdecken wir zahlreiche Stände, an denen wir hätten Essen kaufen können, sofern man uns in die Nähe der Schienen gelassen hätte. Bevor wir eine Transaktion über eine Dose Pringles abschließen können, scheucht uns wildes Pfeifen und Gestikulieren der Zugbegleiter endlich in die richtige Richtung. Wir orientieren uns am Wagenstandanzeiger, dem einzigen elektronischen Hilfsmittel am Bahnhof, und hoffen, dass im entsprechenden Wagon des gerade einrollenden Zuges auch unsere Softshell-Schlafliegen befinden. Im mutmaßlich richtigen Wagen wird nur eine Tür für die ein- und aussteigenden Fahrgäste geöffnet. Warum genau, bleibt das Geheimnis der Zuggesellschaft.
Als wir endlich im Inneren des Wagons sind, fühlen wir uns sofort schockgefrostet. Die Klimaanlage steht auf ungefähr 18 Grad. Im Abteil sind unsere beiden Liegen noch frei, woraus wir schließen, dass wir uns wider Erwarten doch im richtigen Zug befinden. Vielleicht haben wir aber auch nur besonders rücksichtsvolle Mitreisende, wer weiß. Einer unser Abteilgenossen tauscht sogar mit uns seine untere Liege gegen eine unserer oberen. So haben wir jeweils das untere Doppelstockbett. Wir schneiden gerade unsere erster Drachenfrucht auf und sehen zu, wie sich der Zug direkt an den Häusern von Nha Trang vorbeischiebt (scheinbar unterbrechen wir hier kurz einen Markt auf den Schienen), als uns eine heisere Stimme aufschreckt.
Wer in Deutschland gerne ICE fährt, kennt die endlosen Durchsagen, in denen neben der Frage, ob die Anschlusszüge noch erreicht werden, auch die genaue Komposition des Mittagessens im Bordrestaurant und die Fußballergebnisse verhandelt werden. Aber das hier ist eine nervige Ansage ganz anderer Kategorie. Wahrscheinlich auch für Vietnamesen unverständlich und unfassbar laut schnarrt es mindestens zehn Minuten lang aus den extra dafür über unseren Köpfen platzierten Lautsprechern. Es scheint, als würde dieselbe Durchsage immer und immer wieder wiederholt werden. Ganz sicher sind wir uns allerdings nicht. Wir schließen die Türen, halten uns die Ohren zu und warten ab, bis sich die Aufregung gelegt hat.
Die darauffolgende Nacht verläuft unspektakulär und angenehm. Unsere Mitfahrer im Abteil sind so freundlich, sich den Abend über im Bordrestaurant aufzuhalten, sodass wir überraschend viel Ruhe in unserem kleinen Abteil haben. Spät am Abend weckt uns der fröhliche Soundtrack von PokémonGo. In Asien wird fetzige Handyspielmusik nicht als Belästigung, sondern als Bereicherung empfunden. Wenn man in Bangkok am Demokratiedenkmal auf eine große Gruppe schweigender Leute trifft, die alle auf ihre Handys und Pads starren, hat man keine Demonstration vor sich, sondern einen Pokémon-Hotspot. Untermalt von den gleichförmigen Tönen wiegen uns die Wagen in die Nacht.
Am nächsten Morgen wachen wir vor allen Ansagen und Weckern auf. Helles Licht brandet in unser Abteil. Als wir die Gardinen zurückziehen, offenbart sich uns eine spektakuläre Aussicht: der Sonnenaufgang über den Reisfeldern, dazwischen einzelne Mofas, die sich über die Sandpisten schlängeln, gelassene Wasserbüffel im Vordergrund; im Hintergrund blaue, sich im Himmel verlierende Berge, endlose grüne Weite, ein wunderbares Land. Im Abteil liegt unser Sonnenschein und schläft selig.
Eine ganze Weile vor unserer Ankunft in Da Nang kommt dann die Morgendurchsage auf Englisch, die eigentlich ein elegant verpackter Aufruf ist, möglichst viel Geld in die Region zu investieren. Wir hören uns alles genau an, denn wir stehen viel zu früh fertig und vollgepackt im Gang. Hier frieren wir noch ein bisschen und versuchen uns schließlich vor der zweiten endlos langen Ansage zu verstecken, die so ohrenbetäubend laut ist, dass auch alle anderen verschlafenen Fahrgäste nach und nach im Flur auftauchen.
Irgendwann ist es geschafft, die Zugtüren gehen auf und die morgendliche Hitze schlägt uns entgegen: Da Nang. Kaum sind wir im Bahnhofsgebäude angekommen, werden wir von einem Offiziellen in Uniform diskret zur Seite genommen. Er fragt uns, wohin unsere Reise gehen soll. Wir befürchten extreme Probleme mit unseren Visa und unsere Herzen rutschen in unsere Hosen. Wir sagen, dass wir gerne nach Hoi An weiterfahren würden – woraufhin er uns den Preis für eine Taxifahrt nennt. Überrascht und etwas eingeschüchtert willigen wir ein – Männern in Uniform widersprechen wir nicht so gern.
Auf diese etwas skurrile Weise lassen wir uns bequem ins Stadtzentrum von Hoi An fahren, während wir überlegen, ob der heimliche Nebenberuf als Taxifahrer fast aller Staatsbediensteten wohl zu diesen organisatorischen Meisterleistungen am Bahnhof führt.
In Hoi An schließt sich ein dreistündiger Hotelsuchmarathon bis in die Mittagshitze an, weil wir dachten, es wäre doch mal lässig und bestimmt auch einfach, unser Hotelzimmer vor Ort zu suchen. Tatsächlich besichtigen wir den halben Vormittag über dunkle, schimmelige oder sehr schöne überteuerte Zimmer, bis wir schließlich völlig erschöpft in einem Guesthouse landen, das eigentlich gar keines ist. Zumindest gibt es kein Schild oder Namen, den wir den verwirrten Taxifahrern nennen können, die uns in den nächsten Tagen dann schlichtweg einfach irgendwo im richtigen Viertel rauslassen: „Here no Taxi.“ Unsere neue Bleibe gehört der Schwester des Bruders der Besitzerin eines bereits ausgebuchten Hauses, oder so. Jedenfalls ist es ein schönes, bezahlbares Zimmer und wir sinken erschöpft in die Kissen, dankbar, dass dieses abenteuerliche Kapitel unserer Reise nun erst einmal hinter uns liegt. Es gab zwar viele Momente, in denen wir uns einen komfortabel-unökologischen Kurzstreckenflug herbeigesehnt hätten, aber insgesamt war die lange Zugfahrt durch die vietnamesische Nacht ein Erlebnis, das wir nicht missen möchten. Wir reisen schließlich, um Abenteuer zu erleben.
Zugfahren in Vietnam an sich ist angenehm, aber kurios organisiert. Ein wenig befremdlich sind das ewige Eingepfercht sein, Schlange stehen und die verzerrten militärartigen Ansagen schon. Aber man reist elegant und im Vergleich zur Flugreise günstig, sieht etwas von Land und Leuten und hat hinterher die ein oder andere Geschichte zu erzählen. Zusammen mit einem Kind wird es auf den Liegen zwar etwas eng, aber immerhin hat man einen kleinen Heizgnom gegen die Eiseskälte bei sich. Mit ein paar dicken Socken, Ohrstöpseln und gutem Willen im Gepäck kommt man so direkt durch eine der schönsten Gegenden Vietnams und lernt unterwegs sogar noch andere irritierte Reisende kennen, mit denen man sich gemeinsam über dieses fröhliche Chaos wundern kann.
Tipps fürs entspannte Zugfahren:
Tickets kaufen
In Vietnam können Zugtickets nur mit gültiger vietnamesischer Kreditkarte gebucht werden, sprich, es ist für nichtvietnamesische Reisende im Alleingang eigentlich nicht möglich (auch wenn die staatliche Eisenbahngesellschaft mittlerweile über eine englischsprachige Buchungsseite verfügt). Allerdings bieten viele Hotels und zahlreiche Reisebüros einen Buchungsservice an, der schnell und unkompliziert Tickets gegen eine Gebühr bucht. Hier empfiehlt es sich, vorher einmal die Preise im Internet zu prüfen. Uns wurden schon Tickets unter den fadenscheinigsten Ausreden zu Mondpreisen angeboten. Wir hatten uns zum Glück vorher informiert und gingen einfach ins übernächste Reisebüro, in dem es die Tickets für ein Drittel weniger gab.
Klassen
Offenbar gibt es eine Vielzahl ganz unterschiedlich gebauter Züge in Vietnam, die jeweils etwas unterschiedlichen Komfort bieten. Als Faustregel gilt jedoch: Es gibt zwei Klassen, die Softsleeper und die Hardsleeper. Ich empfehle mit Kind unbedingt die weicheren Betten, denn diese sind deutlich geräumiger. Im Hardsleeperabteil schlafen 6 Reisende, die Betten sind so eng übereinander gestapelt, dass die Reise ausschließlich im Liegen stattfinden kann. Im Softsleeperapteil ist reichlich Platz und die halbwegs bequemen Liegen können am Abend und Morgen wunderbar als Sofa genutzt werden.
Kleidung
Vietnamesen lieben es, komfortabel und völlig schweißfrei durch die Landschaft geschuckelt zu werden. Das bedeutet, dass die Züge wirklich gründlich gekühlt werden. Es empfiehlt sich also der Zwiebellook und vielleicht noch eine Extralage Klamotten, die in den Taschen leicht zugänglich sind. Im Zug kommen diese nämlich mit ins Abteil und werden nicht, wie im Bus, in ein externes Gepäckfach gepackt. Außerdem ist natürlich bequeme Kleidung ratsam, es geht ja ins Bett. Da sich Toilettengänge in den überfluteten Schaukelklosetts wohl nicht vermeiden lassen, empfehle ich Badelatschen und enge Hosen oder solche, die sich gut über Kniehöhe schieben lassen und keine lockere Kleidung mit langen Bändern oder Ähnliches. Kann unschön enden.
Essen
Essen kann am Bahnsteig gekauft werden, aber das kann, je nach Organisation des Ein- und Ausstiegs, stressig werden. Wir hatten eine warme Mahlzeit zum Mitnehmen und ein bisschen Obst und Kräcker dabei und sind damit im wahrsten Sinne des Wortes gut gefahren. Wasser wird zusammen mit Decke, Laken und Kissen im Zug ausgegeben (0,5 Liter pro Person) und es gibt im Zweifelsfalle noch die Möglichkeit, sich im Bordrestaurant zu versorgen. Außerdem kommen regelmäßig Schiebekioske mit kleinen Snacks vorbei.
Sonstiges
Wie nach Flügen auch hat es sich als sehr nützlich erwiesen, die gängigen Fahrpreise für Taxis im Vorfeld zu recherchieren. Sobald der Zug hält und man mit Kind und Kegel etwas desorientiert in der frühmorgendlichen Hitze steht, wird man von zahlreichen Taxifahrern belagert, die zunächst mal alle eine ähnliche, völlig überteuerte Preisvorstellung haben. Mit dem realistischen Preis im Hinterkopf und vielleicht sogar einer neuen Reisebekanntschaft an der Seite kann die Fahrt um ein Vielfaches günstiger werden.